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Die Johannes-Passion in einer (fast) szenischen Aufführung - eine Rezension von Cornelia Staudacher

In der Rezeption der zwei großen Bach‘schen Passionen (Matthäus-Passion, Johannes-Passion) und des Weihnachtsoratoriums entsteht leicht der Eindruck, dass die Johannes-Passion in der Beliebtheitsskala hinter der Matthäus-Passion liegt, vom Weihnachtsoratorium einmal ganz abgesehen, dessen Popularität ganz oben rangiert. Das ist in diesem Jahr, dem 300. Geburtstag der Johannes-Passion anders. Neben anderen Chören hat sich auch die Camerata vocale Berlin ihr wie schon im vorigen Jahr gewidmet und einen ganz besonderen Konzertabend dargeboten. Die beiden Passionen sind so unterschiedlich, was die Zeit ihrer Entstehung, ihre inhaltliche Ausrichtung und ihre Intentionen, aber auch ihre musikalische Struktur betrifft, dass sich ein Vergleich verbietet. So wird man weder dem einen noch dem anderen Werk gerecht. Aber eines kann man sicher sagen: Schon von ihrer Anlage ist die Johannes-Passion theatralischer, als würde ihr eine Dramaturgie unterlegt sein, die sich sowohl musikalisch als auch in frappierender Weise in szenischer Anschaulichkeit niederschlägt und die Gemüter der Zuhörer bewegt.


Bach hat sich schon in frühen Jahren mit der Johannes-Passion beschäftigt und immer wieder Veränderungen vorgenommen, bis sie 1524 schließlich in Leipzig uraufgeführt wurde. Im deren Zentrum steht der Tag und der Abend der Kreuzigung Jesu’ bzw. der verbale Schlagabtausch zwischen Pilatus und dem aufgewiegelten Volk, das die sofortige Vollstreckung des Urteils an Jesus fordert. So kommt dem Evangelisten und dem Chor ein großer Anteil der musikalisch-szenischen Darstellung zu.  Der Evangelist (Burkhard Solle, Tenor) sang die langen Passagen aus den letzten beiden Kapiteln des Evangeliums des Johannes mit einer der Dramatik angemessenen Intonation und klarer Text-Verständlichkeit, häufig unterbrochen von den erregten, wütenden Rufen des Volks, das den Vollzug der Bestrafung Jesu’ fordert, der sich selbst als Sohn Gottes zu erkennen gegeben hat.

Der Chor meisterte seinen Part auf eindringliche Weise, zumal die Sänger und Sängerinnen nicht in Gruppen gemäß ihren Stimmlagen, sondern durchmischt platziert waren. Sie beherrschten die komplizierte Partitur, die durch häufige Überlagerungen einzelner Solo-Stimmen mit den Stimmen des Chores, durch fugische Abläufe, Tonleiterkaskaden und Dissonanzenhäufungen gekennzeichnet ist, mit hoher Konzentration und Intonationssicherheit und wurden so der Intention des Komponisten auf bewundernswerte Weise gerecht, den Hohn, den Spott und die Grausamkeit der Szenen musikalisch zu gestalten. Auch die Rolle des Pilatus, der, im Gegensatz zu seiner eindeutigeren Haltung in der Matthäus-Passion, das Volk anfangs zu beschwichtigen versucht, wurde in ihrer dramaturgischen Zuspitzung musikalisch zum Ausdruck gebracht. Pilatus erinnerte an einen Staatsbeamten, der sich unnötigen Trouble vom Leibe halten möchte, so kurz vor den bevorstehenden Feiertagen; fast unwillig übergibt er, gezwungen durch die erbarmungslosen Forderungen des Volks nach „Kreuzigung“, Jesus schließlich seinen Peinigern.

 

Auch die Solisten – allen voran Frieda Jolande Barck (Sopran) mit ihrem hellen, dabei weichen Ton in ihrer Arie „Erzähle der Welt und dem Himmel die Not: Dein Jesus ist tot!“ und Ascelina Klee (Alt), mit ihrer lyrischen Arie „Es ist vollbracht, oh Trost vor die gekränkten Seelen“ sowie Cornelius Lewenberg (Bass), der den Jesus und Maximilian Lika (Bass), der den Pilatus sangen, gaben den mal lyrischen, mal klagenden Arien Ausdruck und Leben. Aber der Tod, den Jesus am Kreuz erleidet, gilt der Rettung der Menschen. Und so endet das Werk mit einem Choral, der Dank und Lobgesang zugleich ist: „Herr Jesu Christ, erhöre mich, ich will dich preisen ewiglich!“

Daniel Kirchmann brillierte erneut als Dirigent des Neuen Kammerorchesters Potsdam und der Camerata vocale Berlin. Wie er mit Hingabe die Passion dirigierte, wobei er in den Chorälen eine solche musikalische Einfühlung und Zuneigung entfaltet, dass man meinen könnte, seine Verwandlung stehe bevor.  Und hätten die Chormitglieder entsprechende Gewänder getragen, dann wäre der Eindruck einer Theateraufführung vollkommen gewesen.  Publikum und Chor dankten es ihrem Dirigenten. Der Abend bot wieder ein Beispiel der wunderbaren Zusammenarbeit zwischen dem Chor, dem Orchester und den Sängern. Eine bessere Nachfolge für Etta Hilsberg, die den Chor 1985 gegründet und bis zu ihrem Tod geleitet hatte, hätte es nicht geben können. Das Publikum bedankte sich mit frenetischem Applaus.